"So etwas habe ich noch nie erlebt!"
Radhaus Starnberg erlebt Ansturm wie nie nach dem Lockdown
Radhändler Jens Baier konnte sich vor dem Ansturm kaum retten. Die Leute rissen ihm die Ware fast aus den Händen. „Das war ein regelrechter Fahrrad-Tsunami, der über uns hereingebrochen ist“, so die Bilanz des Mitinhabers vom Radhaus Starnberg. „Der Mai war irre, so etwas habe ich noch nie erlebt.“ Mindestens doppelt so viel wie sonst habe er verkauft. Für ihn hat der coronabedingte Fahrradboom historische Dimensionen: „Der Mai war der absolute Rekordmonat seit Fahrräder verkauft werden.“
Coronabedingter Fahrradboom
Der Zweiradhandel zählt zu denjenigen Branchen, die von der Pandemie profitiert haben. Immer mehr Menschen haben in der Zeit das Fortbewegungsmittel mit Pedalantrieb ausprobiert. Es steigen auch Leute in den Sattel, die zuvor noch nie auf den Gedanken gekommen sind. Und das aus einer Vielzahl von Gründen. Zum einen wegen des Bewegungsdrangs während des Hausarrests. Es sei ja jede Sportart während des Lockdowns verboten gewesen, so Baier. Fitnessstudios zu, nicht mal die Tennisplätze offen. „Außer Radfahren und Laufen blieb da nichts mehr.“ Auch die Corona-Angst beflügelte den Fahrrad-Boom. Kaum einer wollte mehr wegen des Ansteckungsrisikos mit Bus und S-Bahn fahren. Schnell sei dann die Lust am Radeln gekommen. „Viele wollten dann einfach mal ausprobieren, wie viel sie denn an Strecke schaffen.“ Baier weiß, dass es andere Einzelhändler schwer getroffen hat. „Aber wir können uns nicht beschweren, außer über zuviel Arbeit.“
Keine freie Minute mehr
Mitte März, zu Beginn des Lockdowns, wussten auch die Starnberger Radlverkäufer noch nicht, was Corona für sie bedeuten würde. Ein, zwei Wochen sei es schon „sehr ruhig“ gewesen, so Baier, die Befürchtungen der acht Mitarbeiter und drei Aushilfen wuchsen. Im April ging es schon wieder bergauf. Die Werkstatt durfte sowieso die ganze Zeit offen bleiben, den Verkauf und die Beratung wickelten sie übers Telefon ab und lieferten die Bestellung nach Hause. Und dann der Tag, als die Geschäfte wieder aufmachen durften. Endlich raus nach dem Lockdown und rauf aufs Rad, dieses Gefühl hätte die Leute beherrscht, die bis weit den Gehsteig hinunter Schlange standen – so wie landauf, landab in den Radlgeschäften. "Das Telefon hat den ganzen Tag durchgeklingelt, wir hatten keine freie Minute mehr", erzählt Baier.
Brandschaden in Gauting
Dabei hatte das Jahr denkwürdig schlecht begonnen für das Radhaus, das Baier zusammen mit Michael Worm seit 1998 betreibt, erst in der Starnberger Wittelsbacher Straße, seit zehn Jahren in der Hauptstraße im Gebäude des ehemaligen Kaufhauses „Sta-Ka“. Im Januar verwüstete und verrußte ein Brand die Stockdorfer Filiale am Baierplatz - witziger Zufall, dass die Adresse so heißt wie der Chef. Das Geschäft musste wegen der Renovierung für Monate schließen. Heute ist Baier fast froh darum: „Wäre Stockdorf offen, hätte ich jetzt keine Fahrräder mehr.“ So aber war er erleichtert, die boomende Nachfrage überhaupt noch bedienen zu können. „Ich hatte ja für zwei Geschäfte eingekauft, deshalb war mehr Ware da.“
Liebe und Hochdruck
Fahrradpionier Baier, der schon als Schüler im Radlladen jobbte, hatte schon angekündigt, dass er für das Gespräch mit unserer Zeitung wenig Zeit haben würde. Und wirklich geht‘s an diesem Vormittag zu wie in einem Bienenstock. Keine fünf Minuten ist der Laden ohne Kunden. Mal ist eine Familie mit Kindern da, dann Senioren, die Beratung und Probefahrten wünschen. Die neue Fahrradliebe schafft ein Problem: Es mangelt zurzeit am Nachschub. Die Lager sind so gut wie leergefegt, obwohl die Lieferanten im Dreischichtbetrieb auf Hochdruck produzieren. Besonders bei den Mountainbikes in den gängigen Preisklassen zwischen 500 und 2.000 Euro gibt es Engpässe, auch die E-Bikes gehen weg wie warme Semmeln. „Wir haben aber schon noch was da“, beruhigt Baier. Nur bei ganz bestimmten Wünschen könne es schwierig werden. Er erwartet außerdem, dass sich alles in Kürze reguliert. „Der ganz große Run ist vorbei.“
Nachhaltig mobil
In der ersten Julihälfte soll die Filiale in Stockdorf wiedereröffnet werden. Dort wollen sie in Zukunft keine Bekleidung mehr anbieten, aber dafür mehr Lastenräder. Denn der Fahrradboom wird weitergehen, da ist sich Jens Baier sicher. Schließlich würden mehr Menschen als sonst den Urlaub daheim verbringen und dann bei einer Radltour in die Pedale treten. Baier kann sich auch gut vorstellen, dass die coronabedingte Fahrradbegeisterung die Verkehrswende beschleunigt. „Viele haben das Rad als umweltfreundliches Fortbewegungsmittel für sich entdeckt.“
"Das können wir nur durch Zusammenhalt erreichen"
Patrick Janik, Ersten Bürgermeister der Stadt Starnberg, und Anton Maier, Kreisvorsitzender des ADFC Starnberg, beantworten Fragen, die sich ums Radlfahren und den heimischen Mittelstand drehen:
"Radwege ohne Unterbrechungen"
Radlfahren ist ja eine sehr nachhaltige Art des Von-A-nach-B-Kommens. Wo in der Stadt bzw. Landkreis Starnberg könnte man das den Radlfahrern leichter machen?
Bürgermeister Patrick Janik: Wir haben uns in der Stadt Starnberg zusammen mit dem Stadtrat und der STAgenda 21 das Ziel gesetzt, Starnberg vom Durchgangsverkehr zu entlasten, ein zusammenhängendes Radwegenetz zu schaffen und den Verkehr in der Innenstadt zu beruhigen. Durch den Bau des Tunnels ergeben sich neue Chancen. Perspektivisch liegt uns die Ausweisung von weiteren Radwegen am Herzen, gerade auch auf der Hauptstraße.
Anton Maier, ADFC: Wir haben heuer mit Corona viel mehr Radfahrten im Kreis. Unsere Radinfrastruktur ist trotz AGFK (Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen) und „Alltagsradroutennetz“ notleidend. Radwege wurden z.B. beim Straßenbau „vergessen“. Alle überregionalen Radrouten im Kreis haben Lücken und Gefahrstellen. Radwegprojekte warten auf St. Nimmerlein. Deshalb drei Wünsche:
Radrouten und Wege sollen auch im Ort ohne Unterbrechungen geführt werden, damit man nicht absteigen und auf Gehwege ausweichen muss.
Hauptrouten brauchen Radwege und Radwege brauchen Platz für die Sicherheit. Nach München, Herrsching, an den Seen und im Würmtal sind 2,5 m zu schmal.
Werbung für den neuen Mindestabstand beim Überholen hilft, dass Radler -innen auf den Straßen sicherer unterwegs sind.
"Weniger Amazon und Zalando"
Wie können Kommunen ihre mittelständischen Betriebe in der Corona-Zeit unterstützen?
Bürgermeister Patrick Janik: Uns allen muss klar sein, dass wir auch in Zukunft ein lebendiges Starnberg wollen. Das können wir nur durch gemeinsamen Zusammenhalt und durch die Unterstützung unserer heimischen Betriebe erreichen. Weniger Amazon und Zalando, dafür mehr Einkaufen am Ort und um die Ecke zum Essen gehen. Starnberg lebt nicht vom Ruf und See allein, es braucht eine starke Standortgemeinschaft, die Starnberg neu denkt und belebt, offline und online miteinander verzahnt und Starnberg zu altem Glanz und neuer Attraktivität verhilft.
Anton Maier, ADFC: Veranstalter, Gastronomen und Fachhandel brauchen jetzt praktikable Regeln, damit auch nach Corona noch ein Angebot da ist, wenn Ausflugsgäste auch auf dem Rad kommen und Leistungen nachfragen.
"Landschaft pur"
Ihre liebste Fahrradstrecke, die sie nutzen, ist …?
Bürgermeister Patrick Janik: Die Strecke von Söcking nach Hanfeld in Richtung des Mühltals durch das Leutstettener Moos und nach Percha ist in Starnberg einer meiner liebsten Fahrradrouten.
Anton Maier, ADFC: Es ist nicht mein Arbeitsweg, sondern der Ausflug von Starnberg nach Wolfratshausen über Manthal, Bachhausen und Dorfen. Dort gibt es wenig Autos und Landschaftserlebnis pur.
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